Wenn das Seelische vagabundiert – die Wechseljahre
Während der Wechseljahre gerät häufig nicht nur der Körper aus seinem natürlichen Gleichgewicht. Auch Seele und Geist durchlaufen eine Zeit des Übergangs. Warum diese Phase des Chaos eine schöpferische Chance für die Frau in sich birgt, erklärt Dr. med. Franziska Roemer aus der Medizinischen Abteilung der WALA. Doch zum Einstieg stellen wir ihr erst einmal eine provokative Frage …
Im Volksmund heisst es, eine Frau entwickle sich während der Wechseljahre entweder zum gemütlichen, tendenziell kräftigen „Typ Kuh“ oder zum agilen, eher schlanken „Typ Ziege“. Ist hieran etwas Wahres?
Diese Einteilung ist natürlich stark überspitzt. In der Tendenz jedoch kann man tatsächlich erkennen, dass es Frauen gibt, die mit den Wechseljahren gemütlicher, ruhiger und rundlicher werden, während andere nervöser werden, weniger schlafen und an Gewicht abnehmen. An mir selbst stelle ich dieses Phänomen auch fest – ich würde mich tendenziell dem „Typ Kuh“ zuordnen, wenn ich mich nun auf diese Kategorisierung einlasse. Prinzipiell jedoch ist der Verlauf der Wechseljahre so individuell wie die Frau selbst. Jede Frau erlebt diese Zeit anders und reagiert entsprechend ihrer Persönlichkeit und ihren körperlichen Voraussetzungen auf die neue Situation. Was alle Frauen während der Wechseljahre vereint, ist, dass sie den Übergang in eine neue Rolle und ein neues Gleichgewicht finden müssen.
Was geschieht während der Wechseljahre mit uns? Handelt es sich um eine rein hormonelle Veränderung?
Die Wechseljahre werden häufig sehr eindimensional betrachtet – nämlich auf die körperliche Veränderung beschränkt, die Einstellung der Hormonproduktion in den Eierstöcken. Dabei spielen Geist und Seele während dieser Zeit keine minder wichtige Rolle, auch sie befinden sich in einer Übergangszeit. Hier herrscht erst einmal Chaos, in Form von Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit oder Schlaflosigkeit. „Das Seelisch-Geistige vagabundiert“, so hat es mein Lehrer Dr. med. Heinz-Hartmut Vogel einmal ausgedrückt.
Was meint er damit?
Es scheint, als lösten sich Seele und Geist mit dem Ende des Periodenzyklus teilweise von der bisherigen, engen Verbindung mit dem Körperlichen und fänden zu einer neuen Freiheit. Viele Frauen nehmen die Wechseljahre als „Hormonmangelkrankheit“ wahr und trauern ihrer Jugendlichkeit und Fruchtbarkeit nach. Dabei stellt gerade das Klimakterium eine grosse Chance dar, die es gilt, aktiv zu nutzen: Denn plötzlich werden Kapazitäten frei, die es der Frau ermöglichen, sich weiterzuentwickeln und zu einem neuen, grundlegenden Wohlbefinden zu gelangen.
Wie kann es den Frauen gelingen, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen?
Betrachtet man das Seelisch-Geistige, so ist es wichtig, von der alleinigen Orientierung nach aussen, auf Familie oder Beruf, Abstand zu nehmen und den Blick auch nach innen, auf sich selbst, auf die eigenen Wünsche und Fähigkeiten zu richten. Nicht von ungefähr wird das Klimakterium auch als „Abänderung“ oder „Wechsel“ bezeichnet – Worte, die auf einen aktiven Umgang mit dieser besonderen Zeit hindeuten. Je mehr eine Frau es schafft, ihre eigenen Bedürfnisse zu äussern und ihren eigenen Lebensweg zu gestalten, umso wohler wird sie sich dauerhaft fühlen. Wie die Neuorientierung aussieht, bleibt jeder Frau selbst überlassen – die Spannbreite der Selbstverwirklichung ist gross, von künstlerischen Tätigkeiten über soziales Engagement bis hin zum Annehmen sportlicher Herausforderungen.
Die Schulmedizin versucht, Wechseljahresbeschwerden mithilfe der Hormonersatz-Therapie in den Griff zu bekommen. Was halten Sie als anthroposophische Ärztin davon?
Eine Hormonersatz-Therapie hat zwei Seiten: Einerseits zeigen die Ergebnisse mehrerer gross angelegter Studien¹, dass durch die Therapie das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ansteigt. Auch das Risiko, an einer Thrombose oder an Brustkrebs zu erkranken, ist messbar erhöht. Andererseits kann eine Hormonbehandlung den Frauen, die sehr stark unter Wechseljahresbeschwerden leiden, Linderung verschaffen – zumindest solange die Behandlung lediglich für eine begrenzte Dauer zum Einsatz kommt. Auf diese Weise können die Risiken der Behandlung eingegrenzt werden. Letztendlich muss jedoch jede Frau nach intensiver ärztlicher Beratung selbst entscheiden, welches die richtige Lösung für sie ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich durch den fachkundigen Einsatz Anthroposophischer Arzneimittel die Frage nach einer Hormontherapie meist erübrigt. Betroffenen Frauen empfehle ich daher, die Sprechstunde eines anthroposophischen Arztes zu besuchen – es lohnt sich. (Anm. d. Red.: Informationen rund um die Anthroposophische Medizin sowie Adressen von anthroposophischen Ärzten finden Sie hier.)
Welchen Therapieansatz verfolgt die Anthroposophische Medizin?
In der Anthroposophischen Medizin steht der ganze Mensch im Mittelpunkt der Therapie. Bei der Behandlung von Beschwerden, die im Rahmen der Wechseljahre auftreten können, wird das übergeordnete Phänomen des Gleichgewichtsverlustes ins Auge gefasst. Der anthroposophische Ansatz ist es nun, die Ausgleichsfähigkeit des Organismus auf allen Ebenen – also ganzheitlich – anzuregen. Dies geschieht einerseits über Arzneimittel auf natürlicher Basis, andererseits über die freie künstlerische Betätigung. Künstlerische Tätigkeiten – wie zum Beispiel die Heileurythmie – bieten die Möglichkeit, Veränderungen wahrzunehmen und innerlich nachzuvollziehen. Nicht zuletzt sind auch eine vollwertige Ernährung mit viel Obst und Gemüse sowie ausreichend Bewegung und Entspannung essentiell für das Wohlbefinden – und das nicht nur auf körperlicher Ebene. Aber das Wichtigste ist, dass die Frau erkennt: „Wenn ich mich auf die neue Situation einlasse und sie als Chance begreife, habe ich die grossartige Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln.“ Denn nur so kann er rundum gelingen – der Neubeginn.
1Hierbei handelt es sich um Studien der „Women´s Health Initiative“ (WHI) (www.whi.org) sowie um die „Million Women Studie“, deren Haupt-Fokus auf den Auswirkungen der Hormonersatz-Therapie lag (www.millionwomenstudy.org).